Schwerpunkt

Welche Lehrer*innen braucht das Land?

Über Ursache und Folgen des Lehrkräftemangels

„Bald wieder wie vor 30 Jahren?“,  so kommentierte die Verbandszeitung der Gewerkschaft Entwicklung und Wissenschaft (GEW) Anfang der 90er Jahre Ankündigungen des Kultusministeriums, den voraussichtlichen Lehrerbedarf bald nicht adäquat decken zu können, wie zuvor nur während des großen Baby-Booms der 60er Jahre. Danach folgten Arbeitszeiterhöhungen und Arbeitszeitverdichtung, bis sich die Situation auf dem Lehrerarbeitsmarkt nach der Jahrtausendwende wieder beruhigte. Knapp drei Jahrzehnte später gewinnt das Thema Lehrkräftemangel wieder an Aktualität. Ein Paradox, wenn man bedenkt, dass Ministerpräsident Kretschmann vor nur vier Jahren 16.000 Lehrerstellen streichen wollte.

Wie viele Lehrer*innen braucht das Land?

Der heutige Lehrkräftemangel ist die Konsequenz aus einer Reihe von Versäumnissen und Planungsmängeln des vergangenen Jahrzehnts. Allein die Verknappung der Studienanfängerplätze aufgrund falscher Prognosen und die Verlängerung der Lehrerausbildung für Grundschul- und Fachlehrer*innen zwischen 2011 und 2015 hat Hunderte potenzielle Lehrkräfte gekostet. Hinzu kam Kurzsichtigkeit in der Personalplanung. Da  aus Kostengründen in den vergangenen Jahren möglichst wenige Berufseinsteiger eingestellt wurden, verpasste man die die Chance, frisch ausgebildete und motivierte Pädagog*innen nach der Lehrerausbildung im „Schulsystem“ zu halten. Zwischen 2013 und 2016 wurden im Schnitt nicht mal die Hälfte der jährlichen 3000 Bewerber*innen an Grund- und Hauptschulen eingestellt. Es liegt auf der Hand, dass viele von diesen inzwischen woanders tätig sind, vielleicht in jenen Bundesländern, die es im Unterschied zu Baden-Württemberg nicht versäumten, befristete Verträge zu entfristen oder Grundschullehrkräfte besser zu bezahlen.

Klar, die Entwicklung auf dem Lehrerarbeitsmarkt ist nicht leicht vorherzusagen. Zwar helfen zuverlässige Statistiken über die Geburtenzahlen, den Bedarf an Grundschulklassen vorherzusagen. Doch bereits beim Übergang zu den weiterführenden Schulen treten erste Fragezeichen auf. Wie viele Kinder werden an ein Gymnasium wechseln? Wie viele werden sich für eine Realschule oder eine Gemeinschaftsschule entscheiden? Wie viele davon werden später über ein berufliches Gymnasium ein Fachabitur erwerben, wie viele dagegen eine duale Ausbildung vorziehen? Das fragmentierte Bildungssystem Baden- Württembergs erschwert eindeutig die Planung. Ein überschaubares Bildungswesen mit einem längeren, gemeinsamen Lernen, würde dabei Abhilfe schaffen. Aber auch die zwischen Pädagogischen Hochschulen, Universitäten und pädagogischen Fachseminaren für nicht Hochschulberechtigte ebenfalls stark differenzierte Lehrerausbildung macht das System starr und unflexibel. Es kann einfach nicht „gegensteuern“. Auch hier würden gut geplante Aufstiegs- und Fortbildungslehrgänge dabei helfen, auf neue Herausforderungen zu reagieren. Ein paar von diesen gibt es bereits: so können seit kurzer Zeit Hauptschullehrkräfte zu Real- bzw. Sonderschullehrer*innen fortgebildet werden. Weitere notwendige Maßnahmen werden jedoch nach wie vor nur mühsam diskutiert und selten verabschiedet- sie kosten ja Geld!

Eine neue Ungleichheit

Mehreren Hundert unbesetzten Stellen, vor allem an Grund- und Realschulen, stehen Schätzungen des Kultusministeriums zufolge landesweit ca. 400 bis 500 arbeitslose Lehrkräfte gegenüber. Weitere 2000 arbeitssuchende Lehrkräfte haben ihre Bereitschaft für eine Vertretungstätigkeit angekündigt. Diese Zahlen zeigen, dass der Lehrkräftemangel großenteils territorial verteilt ist. Zum Beginn des Schuljahres waren die Schulen in den großen Ballungsräumen wie Freiburg, Karlsruhe und Heidelberg/Mannheim bestens versorgt. Unbesetzte Stelle waren dagegen im sogenannten „ländlichen Raum“ zu finden, in Einstellungsbezirken, die Namen tragen wie Rems-Muhr-Kreis oder Schwarzwald-Baar-Kreis. Offensichtlich geben viele angehende Lehrkräfte einer befristeten Stelle in den großen Ballungsräumen einer sicheren Beschäftigung im ländlichen Raum den Vorrang. Der ländliche Raum ist für viele nicht attraktiv genug. Aber auch dort brauchen Schülerinnen und Schüler gute Pädagog*innen, auch dort soll der Unterricht nicht ausfallen. Der Mangel an Lehrkräften droht, eine neue Ungleichheit zwischen Stadt und Land zu festigen, als wäre die traditionelle Kluft zwischen urbanem und ländlichem Gebiet im Hinblick auf die Bildungsinfrastrukturen nicht problematisch genug.

Zuckerbrot und Peitsche

Die bisherigen Vorschläge und Maßnahmen zur Lehrergewinnung bewegen sich zwischen Arbeitsmarktdruck und finanziellen Anreizen. Auf der einer Seite bekommen junge Lehrkräfte, die ein Angebot im ländlichen Raum erhalten, den motivationskillenden Hinweis, innerhalb der ersten 7 bis 10 Jahre sei eine Versetzung so gut wie ausgeschlossen. Im gleichen Tenor wird jedes Jahr diskutiert, Ausbildungsplätze vorbehaltlich der späteren Verpflichtung einer Beschäftigung in einem unterversorgten Gebiet zu vergeben.

Auf der anderen Seite plädieren wiederum viele für eine Erhöhung der Lehrkräftegehälter: von einer (in der Tat längst überfälligen) besseren Bezahlung der Grundschullehrkräfte bis hin zu finanziellen Zulagen, für die, die bereit sind, „aufs Land“ zu ziehen. Sicherlich sind gute Arbeitsbedingungen als Grundlage für gute Bildung nicht kostenfrei zu haben. Es muss ohne Zweifel mehr in Bildung investiert werden. Doch ist die Anspielung auf „ein gutes Geld“ und auf eine sichere Beschäftigung als Beamt*in die einzige Strategie?

Was wollen die Lehrkräfte?

Welche anderen Anreize können für junge Lehrkräfte gesetzt werden, um die Attraktivität ländlicher Gebiete zu erhöhen? Befragungen unter Referendar*innen zeigen, dass vor allem junge Lehrerinnen und Lehrer neuen Erfahrungen aufgeschlossen gegenüber stehen, sich weniger als Einzelkämpfer*innen sehen und sich mehr Austausch untereinander wünschen. Dann sollten diese Erwartungen auch konsequent unterstützt werden: mehr Interdisziplinarität in der Ausbildung, mehr Zeit für Fortbildungen und die Möglichkeit für mehr berufliche Mobilität. Dann wäre vielleicht die Bereitschaft, für eine Übergangszeit eine Berufserfahrung „auf dem Land“ zu machen, viel höher. Und mit Sicherheit  würde der eine oder andere nach einer positiven Erfahrung auch dort gerne bleiben.

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