Beiträge für eine Lebendige Streitkultur in Karlsruhe

Debatte

Debatte: Walter Schlecht

Das Konzept Zufluchts-Stadt

Ein Beitrag zur Diskussion erreichte uns aus Freiburg. Walter Schlecht skizziert erste Ansätze für eine Zufluchts-Stadt und zeigt auf, dass dieses Konzept für unterschiedlichste Interessengruppen anschlussfähig ist und es diesen dennoch erlaubt, ein gemeinsames Ziel zu erreichen: Die Gewährung eines Bleiberechts.

Nach Schätzungen leben bereits heute bis zu 500.000 Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland. Diese Menschen flohen vor Hunger, Armut, Krieg oder Verfolgung in der Hoffnung auf ein besseres Leben hierher. Ein nicht ausreichender Flüchtlingsschutz, wie etwa für Klimaflüchtlinge, die Nicht-Anerkennung sozio-ökonomischer Verfolgung, die Abschiebungen in Kriegs- und Bürgerkriegsländer, wie beispielsweise Afghanistan, oder Abschiebungen nach der Dublin-Verordnung zwangen diese Menschen in die Illegalität. Und ihre Zahl wird steigen. Zufluchts-Städte könnten diesen Menschen Schutz und eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe bieten. Auf kommunaler Ebene könnte ein Prozess in Gang gesetzt werden, der das tausendfache solidarische und vielfältige Engagement derer fortsetzt, das in den Initiativen der Flüchtlingshilfe zum Ausdruck kam: Den Menschen ein Bleiberecht zu gewähren.

Die Stadt kann anders handeln als der Staat

Die Idee, als Stadt anders zu handeln als der Staat und nach eigenen Spielräumen zu suchen, um Geflüchtete zu schützen, ist nicht neu. In den USA gibt es rund 300 „Sanctuary Cities“, die in den 1980er Jahren fast einer Million Menschen aus den Kriegszonen Mittelamerikas Asyl gewährten. Heute widersetzen sich diese Städte der nationalen Migrationspolitik Donald Trumps. Ein Beispiel: Santa Ana, Kalifornien, rund 300.000 Einwohner*innen. Per einstimmigen Beschluss des Stadtrates wurde die Nutzung städtischer Mittel zur Durchsetzung von Abschiebungen papierloser Migrant*innen verboten. Die Polizist*innen der Stadt werden bei Personenkontrollen nicht nach dem Migrationsstatus fragen, und sie wird keine Haftbefehle der Migrationsbehörde ausführen. (Einschränkend soll darauf hingewiesen werden, dass die kommunalen Kompetenzen in den USA deutlich weitreichender sind als in der BRD.)

In Barcelona, Athen, Leipzig, Breslau, Amsterdam, Gent und Florenz machen sich Initiativen, Verwaltungen und Stadträte für einen gesellschaftlichen Zugang auch für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus stark. Warum? Weil ein Bleiberecht und die legale Anerkennung allen nutzt. Zuvorderst natürlich den vormals Illegalisierten, handelt es sich doch um besonders schutzbedürftige Menschen. Aber auch Arbeitgeber haben ein Interesse, wenn ihre Auszubildenden eine Bleiberechtsperspektive haben und nicht von Abschiebung bedroht sind.  Oder Gewerkschaften, die wissen, dass Illegale oft missbraucht werden, um Lohn- und Sozialstandards zu unterlaufen. Für die kommunale Gesundheitsversorgung können Menschen, die von Betreuung und Behandlung ausgeschlossen sind, ein Risiko hinsichtlich der Verbreitung von Krankheiten darstellen. Die Vermietung in herabwürdigen Unterkünften zu hohen Preisen könnte gestoppt werden. Selbst der Polizei könnte die Arbeit erleichtert werden, da gerade Menschen ohne Aufenthaltsstatus viel häufiger Opfer organisierter Kriminalität sind.

Die Ausgangspunkte einer Zufluchts-Stadt

Das Konzept der Zufluchts-Stadt knüpft an die im Grundgesetz verankerte Eigenständigkeit der kommunalen Ebene an. Dort heißt es: „Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung.“ (GG, Art. 28, 2) Ferner heißt es in der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg: „Die Gemeinde fördert in bürgerschaftlicher Selbstverwaltung das gemeinsame Wohl ihrer Einwohner und erfüllt die ihr von Land und Bund zugewiesenen Aufgaben.“ In kurzen Worten: Die Kommune verfügt über eine Allzuständigkeit für Alle.

Es wird in der Gemeindeverordnung explizit nicht von Staatsbürger*innen geschrieben, sondern von „Einwohnern“. Das impliziert, dass in einer Stadtgesellschaft nicht nur Staatsbürger*innen, sondern auch Stadtbürger*innen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus leben. Und eine Stadt ist dem Wohle der Gesamtheit seiner Einwohner*innen verpflichtet und strebt danach, das Zusammenleben aller zu ermöglichen. Ebenfalls wird deutlich, dass Kommunen mehr und anderes sind als Vollzugsorgane nationalstaatlicher Politik. Sie sind eigenständige Akteure.  Für die Kommunen ist es rechtlich ein schmaler Grat: Einerseits dürfen sie Personen ohne einen Aufenthaltsstatus nicht unterstützen, andererseits haben sie für alle, die im Stadtgebiet dauerhaft leben, eine gewisse Verpflichtung und Verantwortung.

Und genau da gilt es, anzusetzen. Denn: „Kommunale Aufgaben sind nicht auf Dauer festgelegt, sondern entwickeln sich durch wandelnde gesellschaftliche und politische Erwartungen an die öffentliche Verwaltung“, schreibt die Landeszentrale für politische Bildung. Die Kommune hat das Recht, Aufgaben zu erfinden, auch in Richtung Zufluchts-Stadt. Sie unterliegt zwar einem eingeschränkten Handlungsspielraum, verfügt jedoch über Gestaltungsmöglichkeiten. Die Entscheidung über derartige Selbstverwaltungsaufgaben liegt komplett in den Händen der Kommunen, genauso wie die finanzielle Verantwortung für deren Erfüllung. Rechtsvorschriften oder Regelungen seitens des Staates bestehen nicht.

Erste Erfahrungen, weitere Schritte

In Freiburg wurde die Diskussion um das Konzept Zufluchts-Stadt schon vor einigen Jahren aufgegriffen. Im Jahr 2004 wurde dort festgehalten, dass die Stadt Freiburg für alle Menschen eine Fürsorgepflicht hat, die dauerhaft in der Stadt leben, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Daraus folgend wurden von der Stadt Ziele definiert: „Verbesserung der humanitären Versorgung ‚illegal‘ in Freiburg lebender Menschen. Rechtliche Legitimierung und Absicherung der Tätigkeit von Gruppen und Personen, die für diese Personengruppe humanitär motivierte Hilfe und Unterstützung anbietet. Verstärkte Information und Aufklärung der Öffentlichkeit zum Thema. Stärkung der Vernetzung der Institutionen, Gruppen und Initiativen, die sich für Menschen ohne Aufenthaltsstatus engagieren. Effektiver Schutz vor Ausbeutung bzw. Möglichkeiten, vorenthaltenen Lohn für faktisch geleistete Arbeit einklagen zu können. Rechtliche Klarstellung zum Umfang und zu den Grenzen der Datenübermittlungspflicht an die Ausländerbehörde bzw. zur Straffreiheit humanitär motivierter Hilfe“.

Zusätzlich existieren weitere Ansatzpunkte, Schritte in Richtung Zufluchts-Stadt zu unternehmen: 2011 wurde die (Daten)-Übermittlungspflicht von Schulen und Kitas abgeschafft. Laut einem Gutachten von 2001 können Personen auch ohne Aufenthaltstitel eine arbeitsgerichtliche Klage einreichen, ohne dass der Arbeitsrichter verpflichtet ist, entsprechende Meldungen zu machen. Nach einem aktuellen Urteil des Sozialgerichts Mainz, haben auch Menschen ohne Aufenthaltspapiere unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Weiterhin dürfen personenbezogene Daten, die einer öffentlichen Stelle u.a. von einem Arzt oder Angehörigen eines anderen Heilberufs eröffnet worden sind, nicht an die Ausländerbehörde übermittelt werden. Privatpersonen müssen in keinem Fall illegalisierte Migrant*innen melden. Auch eine Diskussion über Racial Profiling mit Polizeibehörden muss sich kommunal entwickeln, denn ‚jeder darf abhängen, wo er will‘ und ist kein Grund für eine Kontrolle.

Aktuell gibt es Initiativen in Freiburg, Hanau, Osnabrück, Berlin, Hamburg, Ottensen, Münster und weiteren Städten, die das Konzept der Zufluchts-Stadt diskutieren. Vielleicht bald auch in Karlsruhe?

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1 Kommentar

  1. Karlsruhe versteht sich als „Welcoming City“. Das ist nicht zu verwechseln mit einer Zufluchts-Stadt/Sanctuary City – aber durchaus ein Ansatzpunkt.

    Nachfolgend die Abschlusserklärung der Generalkonferenz der Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus (ECCAR), die 2015 in Karlsruhe stattgefunden hat:

    „Welcoming Cities – Schlüssel für eine anti-rassistische Kultur in den Städten“:

    Wir, die Mitglieder der Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus (ECCAR) glauben daran, dass eine bessere Welt nur durch den Ausbau von Städten mit einer starken Willkommenskultur möglich ist.

    Wir sprechen der UNESCO unsere Anerkennung für die Gründung der Internationalen Städtekoalition gegen Rassismus (ICCAR), ihre globale Führungsrolle und ihre kontinuierliche Unterstützung aus.

    Insbesondere durch die Anerkennung des ersten bilateralen Kooperationsabkommens zwischen der ECCAR und der lateinamerikanischen Koalition unter Schirmherrschaft der UNESCO versteht sich ECCAR als internationaler Akteur, der sich der Bedeutung der globalen Perspektive hinsichtlich dem Aufbau von Netzwerken bewusst ist, vor allem in Bezug auf regionale Koalitionen im arabischen Raum und in Afrika für den Aufbau einer antirassistischen Aufnahmekultur durch sogenannte „Welcoming Cities“. Das unterstreicht unsere Stärke als Netzwerk in Europa und unsere weltweite Sichtbarkeit als Mitglied von der ICCAR.

    Die Angst vor Kriegen, Bürgerkriegen, Repression und verschiedenen Arten von Verfolgung hat die Vertreibung von Menschen, den Verlust ihrer Würde und Armut zur Folge. Europäische Städte stehen hingegen vor der Herausforderung, eine große Anzahl von geflüchteten Menschen aufzunehmen,und deren gesellschaftliche Integration zu ermöglichen.

    Die ECCAR kommt zusammen, um geeignete und menschenrechtsachtende Wege zu finden, um die Flüchtlinge unterzubringen und vertraut dabei auf die Fähigkeit der Städte zur Friedensschaffung.

    Die Mitgliedstädte haben erkannt, dass das Eintreten durch advocacyund Kommunikation wichtige Instrumente sind, um Nähe zu ihren Bürgern und der Bevölkerung zu schaffen.
    In dem Bewusstsein, dass unsere Koalition ein Netzwerk ist, das durch den gegenseitigen Austausch von bewährten Praktiken gegen Rassismus und Diskriminierung und eine engere Zusammenarbeit gestärkt werden kann.

    Wir teilen die Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt durch aktive und integrierte kommunalpolitische Maßnahmen unter Einbeziehung des Privatsektors und der Zivilgesellschaft;

    Eingedenk der Forderungen und Vorschläge des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge, unter Hinweis auf den Leitfaden des Europarates zur Wahrung der Menschenrechte bei der Aufnahme von Flüchtlingen;

    Unter Kenntnisnahme des Aufrufs des Ausschusses der Regionen der EU zur Unterstützung der Kommunen durch nationale Regierungen und interstaatliche Organisationen, auch zum Austausch guter Praktiken;
    Unter Erinnerung an unsere Satzung und den Zehn-Punkte-Aktionsplan von ECCAR, die Städte von ECCAR sind sich bewusst, dass die derzeit zu erwartende Flüchtlingszahl weniger als einem Prozent der EU-Bevölkerung entspricht.

    Die Mitglieder der Koalition erklären sich solidarisch mit den Menschen in Not und auch untereinander in der Städtekoalition und hoffen, dass die Notsituation auch weiterhin auf menschenwürdige und diplomatische Art und Weise angegangen wird. Wir wissen ebenfalls, dass sich die Situation in nächster Zukunft nicht wesentlich ändern wird.

    Wir erklären uns bereit, alle Anstrengungen zur Unterbringung der bedürftigen Menschen unter menschenwürdigen Bedingungen zu unternehmen, verpflichten uns, eine anti-rassistische Willkommenskultur, welche auch mittel-und langfristige Maßnahmen umfasst, entlang der Verpflichtungen aus dem 10-Punkteprogramm zu schaffen, um den sozialen Zusammenhalt unserer Städte zu wahren und zu stärken, vor allem im Bereich der Wachsamkeit gegenüber rassistischen Einstellungen, Verhütung von Hassdelikten und des gleichberechtigten Zugangs zu Unterkunftseinrichtungen, zur Gesundheitsversorgung, zum Arbeitsmarkt und zur Bildung und verpflichten uns weiterhin, diese Maßnahmen wirksam umzusetzen.

    Wir appellieren an alle Länder und ihre Städte, die dies noch nicht getan haben, ihre Türen zu öffnen.
    Die Mitglieder von ECCAR danken der Zivilgesellschaft für ihre Bemühungen und bitten sie, auch in der Zukunft weiterhin aktive Unterstützung bei der Umsetzung dieser Willkommenskultur zu leisten.

    Die ECCAR Mitgliedstädte:
    Appellieren an die regionalen undnationalen Regierungen ihrer Länder, die dafür nötige Solidarität durch aktive Mithilfe und Bereitstellung geeigneter Ressourcen, die Beseitigung administrativer Hindernisse und die Zusammenarbeit mit anderen Städten zu sichern;
    Appellieren an die zuständigen Behörden, effizientere und menschenwürdigere Asylverfahren zu entwickeln, um so schnell wie möglich Klarheit für die Flüchtlinge und die Behörden zu schaffen;
    Appellieren an die europäischen Institutionen in Europarat und Europäischer Union, alle Möglichkeiten im Rahmen ihrer Kompetenzen auszuschöpfen, um eine bestmögliche Aufnahme der Flüchtlinge durch die Kommunen unter Wahrung der Menschenrechte, Grundfreiheiten und der Sicherheit zu gewährleisten.

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