In der letzten Ausgabe war eine Aufnahme des Durlacher Basler-Tor-Turmes abgedruckt. Im Jahr 1969 war er für kurze Dauer besetzt und firmierte als „Antiautoritäres Jugendzentrum Roter Turm“. Die bürgerliche Empörung schlug hohe Wellen und ermutigte Rechtsradikale zu Gewalttaten. Schlussendlich wurde das Zentrum durch einen Polizeieinsatz geräumt und der Turm geschlossen.
Eine Geschichte der 68er Revolte aus Durlach
Der Festungsturm stammt aus dem 14. Jahrhundert, hat meterdicke Mauern und widerstand im 17. Jahrhundert den Angriffen der französischen Truppen nur als Ruine. Wieder aufgebaut, diente er in der markgräflichen Zeit als Gefängnis. Vielleicht weil er so trutzig, stark und unzerstörbar war, wurde er besonders attraktiv für die bündische Jugend, in Karlsruhe für die ‚dj 1.11‘, die ‚deutsche jungenschaft vom 1. november 1929‘, benannt nach ihrem Gründungstag. Die ‚Jungenschaft‘ gehörte zwar zur geistigen Strömung des Wandervogels, war aber auf das Neue, das Selbstgeschaffene, den eigenen Erfindungsgeist bei gleichzeitiger Selbstdisziplin ausgerichtet. Man orientierte sich an der Moderne, an neuer Kultur und an der Auseinandersetzung mit fremden Ländern und Völkern. Hier waren die Bauhaus-Architektur und expressionistische Lyrik Mittel zur geistigen Selbständigkeit, bei gleichzeitiger Treue zur Gemeinschaft durch eigene Überzeugung. Die Jungenschaft fiel durch weite und anstrengende Fahrten, etwa ans Nordkap oder nach Russland auf, mit oftmals sehr harten körperlichen Anforderungen. Das war eine andere Vorstellung von Gemeinschaft als die nationalsozialistische. Hier war die selbst gewählte und selbst verantwortete Bindung entscheidend und weniger die völkische Gemeinschaft, in die man eben hineingeboren wurde.
Mit der Gründung des ‚Dritten Reiches‘ 1933 duldete die nationalsozialistische Bewegung keine geistige Konkurrenz mehr und bestand auf Gleichschaltung aller Organisationen, auch der Jugendverbände. Die dj 1.11 versuchte ihrer Auflösung zu entgehen, indem sie mit der Hitlerjugend zusammenarbeitete ohne in sie einzutreten. Letzten Endes erfolglos. Die Ideen der Freiheit und der Selbstbestimmung ließen sich mit der Idee der geistigen Uniformierung nicht vereinen.
Gemietet, gekündigt, besetzt, geräumt
In den späten 1950er Jahren mietete die dj 1.11 den Turm als Gruppenraum. Vielleicht ist es aufgrund der Geschichte der Jungenschaft nicht erstaunlich, dass ihre Mitglieder sich für die 68er-Bewegung interessierten, in der sich Protest gegen die autoritären und für Viele immer noch nationalsozialistisch ‚versifften‘ Honoratioren laut machte. Zum Teil selbst Studenten, zum Teil unterstützt durch liberales Bürgertum, entstand durch die Jungenschaft in den inzwischen von der Stadt gekündigten Räumen ein Anlauf- und Debattierzentrum für alle jugendbewegenden Probleme. Unabhängigkeit, politische und sexuelle Freiheit, Anti-Establishment, Freiheit von familiären Zwängen, Revolution, Anti-Vietnam-Krieg – das waren die Themen, die im Turm Tag und Nacht leidenschaftlich besprochen wurden. Ideen von antiautoritärem Leben, selbstorganisiertem Lernen, freier Liebe, Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Frieden wurden ausprobiert.
Das provozierte die Bevölkerung und die Obrigkeit und prompt verfolgte die Staatsanwaltschaft ein junges französisches Liebespaar, das auf der Durchreise – mit Erlaubnis der Mieter und zusammen mit anderen – im Turm übernachtet hatte und dem man unterstellte, dort ‚den GV (Geschlechtsverkehr) ausgeübt‘ zu haben: Ein strafbares Verhalten der Jungenschaft als Mieterin. Auf der anderen Seite bekam auch das Jugendamt Durlach den Protest zu spüren, als nämlich eine Gruppe von wütenden Jugendlichen dessen Räume im Durlacher Rathaus stürmte und auseinandernahm, um die ‚repressive‘ Arbeit des Amtes zu stören.
Die Polizei erstürmte schließlich auf richterliche Anordnung den Turm, den sie zuvor belagert hatte. Allerdings waren die ‚Besetzer‘ inzwischen entkommen – einzeln und mehr oder weniger unbemerkt.
Der ‚Rote Turm‘ in Durlach machte damals bundesweit Schlagzeilen aber in Durlach verstand man die jungen Leute kaum, was auch an der fremdwortdurchsetzten Politsprache lag, in der ihre Botschaften an die Öffentlichkeit abgefasst waren. Vor allem aber und zu Recht sah man die Jungen als Störer der überkommenen Ordnungen, als Unzufriedene, die etwas Neues wollten. Das war für viele Bürger*innen unbequem.
Allerdings gibt es Fernwirkungen bis in die Gegenwart. So hat vor einigen Jahren eine Arbeitsgemeinschaft von Schüler*innen des Markgrafen-Gymnasiums, im Rahmen einer Ausstellung an den ‚Roten Turm‘ erinnert.
Der Turm hat offenbar schon immer getrotzt: Zuerst den Franzosen, dann den Autoritäten. Vielleicht widersteht er auch dem Verfall und Vergessen.
Anmerkung: Auf die geschlechtsneutrale Bezeichnung von Personen(gruppen) wurde in diesem Beitrag weitestgehend verzichtet. Die Geschlechtertrennung war zur damaligen Zeit noch weit verbreitet, so dass der Gebrauch der männlichen Form auch die historischen Tatsachen abbildet.